Dr. Martin Mühl - Angewandte Philosophie

FAZ Artikel über Philosophische Beratung

Nach einem Interview mit dem Journalisten Marcus Reihnardt erschien am 20.2.2016 in der FAZ folgender Artikel:

In Hirngespinsten spazieren gehen

Martin Mühl betreibt eine Philosophische Praxis in Wiesbaden. Zu ihm kommen Menschen, die sich mit einer Entscheidung schwertun und Lösungen ihrer Alltagsprobleme suchen.

Dr_Martin_Muehl

Mit philosophischem Hintergrund: Martin Mühl in seiner Praxis.
Foto: Michael Kretzer

Georg steht kurz vor dem Ruhestand. Jahrzehntelang beantwortete der Job ihm die Frage, wie er sein Leben gestalten sollte. Jetzt ist mit dem Berufsleben Schluss. Und nun? Irgendwann begeisterte ihn die Idee, nach Berlin zu ziehen. Er war oft da, mag die Stadt und wäre gerne Berliner. Aber kann er das? Will er sein vertrautes Umfeld verlassen? Georg hat Angst, in Berlin zu vereinsamen, und weiß nicht, wie diese Frage entschieden werden kann.

Sie führt Georg in Martin Mühls Philosophische Praxis. Führt ihn mitten in die Einfamilienhaus- Siedlung an der Friedrich-Naumann-Straße nahe der Dilthey-Schule in Wiesbaden. Nur ein kleines Schild und eine noch kleinere Box mit Informationsblättern weisen auf die Praxis hin, die Mühl im Erdgeschoss seines Wohnhauses eingerichtet hat. Der hochgewachsene, hagere, 62 Jahre alte Philosoph, hat eine ruhige und klare Sprechweise. Auch wenn er die Geschichte von Georg erzählt, der eigentlich anders heißt.

Mühl bietet eine „Selbstklärung“ an

Wer sich wie Georg in dem hellen Raum mit den deckenhohen weißen Bücherregalen an den Wänden auf das schwarze Sofa setzt, ist nicht krank. Der promovierte Philosoph bietet auch keine Heilung. Seine Klienten sind deshalb aber nicht sorgenfrei. „Darf ich meine verwirrte Mutter gegen ihren Willen ins Pflegeheim geben, wenn es auch mit ambulanter Pflege in ihrem Zuhause einfach nicht mehr geht?“ oder „Darf ich meinen Partner nach so vielen Jahren verlassen?“. Beispiele wie diese nennt Mühl, wenn man ihn nach den Schwierigkeiten seiner Besucher fragt. Die meisten kommen, weil sie vor einem neuen Lebensabschnitt stehen und nicht wissen, wie sie ihn meistern sollen.

Was Mühl ihnen anbietet, nennt er „Selbstklärung“. Die Schwierigkeiten und Entscheidungssituationen seien häufig komplex und diffus, aber immer beruhten sie auf Vorstellungen, sagt er. Das treffe auch auf moralische Fragen zu, wie im Fall der altersverwirrten Mutter, die nicht ins Pflegeheim möchte. Es seien Vorstellungen des Klienten von sich selbst, von anderen und von den Folgen seiner Entscheidungen. In Georgs Fall ging es um die Vorstellungen davon, wie sein Leben als Berliner aussähe, was er dort täte und wie er dort wohnte. „Das sind meist Hirngespinste, aber mit etwas anderem kann man nicht arbeiten, wenn man über seine Zukunft entscheiden will“, sagt Mühl.

50 Minuten Beratung kosten 70 Euro

Seine Arbeit zielt darauf ab, die Vorstellungen besser kennenzulernen, zu klären, was genau der Hilfesuchende will und was seine Gründe dafür sind. Hat er sie erst einmal klar vor Augen, fällt es leichter, die Entscheidung zu treffen und sie später mit gutem Gefühl zu tragen. Vorstellungen seien die gedanklichen Räume, in denen man sich in solchen Fällen bewege. „Meine Aufgabe besteht darin, sie zuzuspitzen und miteinander zu konfrontieren“, beschreibt Mühl seine Arbeit.

So ging er auch mit Georg in dessen Hirngespinsten und Zukunftsphantasien vom Berliner Stadtleben spazieren. Warum könnte er einsam werden? Wie fand er sonst Kontakt zu anderen? Kann das in Berlin nicht auch funktionieren? Auf Mühls Fragen muss Georg Antworten finden. Dadurch wird das Bild seines Berliner Lebens schärfer. Es fällt ihm leichter zu erkennen, was widersprüchliche Vorstellungen und unberechtigte Sorgen sind. Die eigenen Gründe werden Georg klarer, wodurch er selbstsicherer wird. Am Ende verschwindet entweder der Zweifel daran, nach Berlin zu ziehen, weil die Bedenken aus der Welt geschafft wurden. Oder es verschwindet der Wunsch, ein Berliner zu sein, weil Georg erkennt, dass dieses Leben für ihn nicht wünschenswert ist.

70 Euro kostet eine fünfzigminütige Sitzung in Mühls Praxis, die er seit 2008 betreibt. Zuvor lehrte er Philosophie an der Hochschule Rhein-Main und der Universität Mainz. Wie viele Sitzungen ein Klient bis zur Klärung seines Problems braucht, ist unterschiedlich. Ein bis zwei Besucher empfängt Mühl pro Woche auf seiner Couch. Die Praxis allein reicht für den Lebensunterhalt nicht aus.

Ein nützliches Instrument bei der Lösung alltäglicher Sorgen

So sei es bei den meisten philosophischen Praktikern, sagt Thomas Gutknecht, stellvertretender Vorsitzender des Berufsverbands Philosophischer Praxen in Deutschland. Zu wenige Menschen wüssten, dass es die Form der philosophischen Beratung gebe. Laut Gutknecht gibt es in Deutschland 149 Philosophische Praxen. „Die Zahl ist jedoch mit Vorsicht zu genießen.“ Da „Philosophische Praxis“ kein geschützter Begriff ist, kann jeder seine Praxis so nennen.
Auf Internet-Seiten präsentieren sich nicht wenige als „Lebenscoach“. Andere werben mitspiritueller Orientierung oder zeigen, wie man Orakel richtig nutze. Esoterik und Philosophie haben aber nach Mühl und Gutknecht wenig miteinander zu tun. Feste Regeln, wie eine Philosophische Praxis zu arbeiten habe, gebe es zwar nicht, sagt Mühl. „Ein philosophischer Praktiker muss aber sein Tun rechtfertigen können und dabei den Standards der akademischen Diskussion genügen.“ Das träfe auf Esoteriker nicht zu.

Die Methode, an der sich Mühl orientiert, nennt sich Mäeutik, Hebammenkunst. Seit etwa 2500 Jahren wird sie so genannt, weil nach platonischer Überlieferung der griechische Philosoph Sokrates sein gezieltes Fragen mit der Arbeit einer Hebamme verglich. Wie die Hebamme der Mutter helfe, das Kind zur Welt zu bringen, helfe er seinem Gegenüber, in Gesprächen wahre Einsichten aus sich selbst hervorzubringen.

Dem Klienten soll geholfen werden, seine Freiheiten zu nutzen

Aber nicht alles ist seitdem gleichgeblieben. Dass in den letzten Jahren immer mehr Philosophische Praxen eröffneten, hänge mit einem Wandel in der Philosophie zusammen, sagt Mühl. Sie verstehe sich seit den achtziger Jahren auch als nützliches Instrument bei der Lösung alltäglicher Sorgen. Sokrates war noch auf der Suche nach allgemeingültigen Wahrheiten, auch wenn er wusste, dass er sie nicht erreicht. Darum gehe es heute nicht mehr, sagt Mühl. Die Philosophie wolle den Menschen nicht bevormunden. Seine Fragen sollten seine Klienten nicht zu einer bestimmten Einsicht bringen, die er auf Grund seiner philosophischen Arbeit erlangt habe. „Die Menschen, die zu mir kommen, haben ihre Gründe. Ich will ihnen nur helfen, sie konkret zu fassen“, sagt Mühl. Das ist ein wichtiger Teil des Konzepts. Mühl will keine Orientierung liefern. Vielmehr soll der Besucher in die Lage versetzt werden, selbst seine Freiheit zu nutzen.

Hierin liegt auch der wichtigste Unterschied zwischen einer philosophischen und einer psychotherapeutischen Praxis. Einen Therapeuten suchen Patienten in Lebenskrisen auf, in denen sie psychisch zu instabil sind, um freie Entscheidungen zu treffen. Ihre Krankheit schränkt sie ein, ihr Leben selbstbestimmt zu führen. Mühls Klienten dagegen sind in der Lage, frei über ihr Tun zu bestimmen. Die Philosophische Praxis hilft ihnen dabei zu entscheiden, was sie mit dieser Fähigkeit anfangen sollen. Menschen mit Depressionen oder anderen psychischen Leiden verweist Mühl daher an Psychotherapeuten.

Auch unter denen, die keine psychischen Schwierigkeiten haben, kann Mühl nicht allen helfen. Vielen aber schon. So wie Georg. Ob er mit seiner Entscheidung glücklich geworden ist, kann Mühl nicht sagen. Seit Georg in Berlin lebt, hat er nichts mehr von ihm gehört.

(Quelle: F.A.Z. / Link zum Artikel im faz-net)