Dr. Martin Mühl - Angewandte Philosophie

Verstehen

Wirklich verstehen, so wie etwas wirklich ist, geht nicht. Daher kann ich auch andere nicht wirklich verstehen und sie mich schon gar nicht. – So scheint es. Denn warum sonst so viele Missverständnisse?

Aber was soll es heißen, wirklich zu verstehen? Verstehen, wie jemand wirklich denkt. Und wie denkt sie oder er wirklich im Unterschied zu dem, was sie bloß vermeintlich denken? Durch Fragen und Verständigen versteht man doch nicht wirklich wirklich. Man müsste dafür in sie hineinschauen, in ihr Gehirn. Denn dort findet dieses Denken und Verstehen statt. Wenn wir den Ort sehen, müssten wir demnach die Wirklichkeit sehen.

Und was sehen wir, wenn wir in ihr Gehirn schauen? Sehen wir das Gemeinte dann selbst? Und wenn wir nicht hinein schauen, sehen wir es nicht, sondern etwas anderes?

Was also müssen wir verstehen, wenn wir jemanden wirklich verstehen wollen? Was müssen andere verstehen, wenn sie es ernst meinen, uns wirklich verstehen zu wollen? Sie müssten wir sein. Aber das können sie nicht, denn sie sind ja die anderen, und ich bin ich. Und wie verstehe ich mich? Wie mache ich das: mich verstehen?

Es gibt auch Fälle, in denen wir uns selbst nicht oder missverstehen. Nicht selten machen uns andere darauf aufmerksam. Verstehen sie uns dann besser als wir uns?

Wie sollen wir das verstehen?

Wir haben Mittel dafür, die, die wir auch zur Verständigung nutzen. Aber die haben auch die anderen zur Verfügung, und zwar dieselben, die auch wir nutzen. Denn sonst würde eine Verständigung nicht möglich. Alle täten etwas anderes, wir kämen nicht zusammen in dem, was wir meinen.

Demnach verstehe ich mich nur durch die Verständigungsmittel, ebenso, wie ich auch die anderen verstehe. Wie verstehe ich dann wirklich? Eben dadurch. Wirklicher geht nicht. Denn wirklich ist nur, worauf wir uns mit den gemeinsamen Mitteln verständigt haben.

Aber oft fühlen wir doch, dass etwas nicht stimmt, dass eine Verständigung nicht den wirklichen Punkt der Differenz verständlich macht.

Dann fühlen wir etwas, ohne es zu verstehen. Es ist ein Signal, aber es bleibt unverständlich, solange wir nicht erneut beginnen, uns mit den allgemeinen Mitteln der Verständigung darüber zu verständigen.