Dr. Martin Mühl - Angewandte Philosophie

Intelligenz

Intelligenz rechnen wir uns gerne als die besondere menschliche Begabung zu, mit unserem Leben zurechtzukommen. Aus Sicht der Evolutionstheorie ist sie die Begabung des Menschen, sein Überleben zu sichern und sich gegenüber der übrigen Natur durchzusetzen. Sie ist demnach eine praktische Begabung, eine dafür, wie man erfolgreich handelt.

„Erfolgreich handeln“: Es gibt grundverschiedene Auffassungen hiervon.

Angesichts von Umweltschäden in einem Maße, das die Existenz von Leben gefährdet, weil es dessen Grundlage zerstört, drängt sich heute die Frage auf: Sind Handlungen, die ihr kurzfristiges Ziel erreichen, dabei aber ihre in Gebrauch genommene Grundlage zerstören, erfolgreich? – Eine Beziehung zu erzwingen um den Preis, beim anderen Menschen die eigene Motivation hierfür zu zerstören; – den Gipfel einer Karriere erklimmen um den Preis, auszubrennen und den Lebenssinn zu verlieren; – das Unternehmen zum Branchenführer zu entwickeln um den Preis, das Arbeitsklima zu zerstören; ist das erfolgreich? Vielleicht kurzfristig, aber nicht langfristig. Es ist nicht erfolgreich im Sinne der Sache, um die es vorgeblich geht. Ist, so zu handeln, intelligent?

Intelligenz sei Schnelligkeit in der Auffassung, so heißt es. Schnell sind wir, wenn wir uns keine Skrupel machen. Rücksichten bremsen, nicht nur beim Handeln, auch beim Denken. Wenn sich die Materie meinen Zielen sperrt, bin ich schneller, wenn ich sie austausche oder zerstöre, als wenn ich ihre Beschaffenheit beachte. Wenn das Anderssein anderer mein Fortkommen behindert, bin ich schneller, wenn ich sie zwinge, ignoriere oder meide, anstatt mich mit ihnen zu verständigen und mich auf sie einzustellen. Schnelligkeit hinterlässt leicht Ödland und eine Schneise der Verwüstung. Oft ist sie nur möglich, solange sie auf immer neue Ressourcen zurückgreifen kann. Ist das intelligent?

Ein Wissen, das nicht versteht, dass es in der Befähigung zur sozialen Handlungskoordination begründet ist, verkennt seine praktische Grundlage – auch wenn es punktuell bestimmte Handlungen ermöglicht. Wenn wir von solchem Wissen viel anhäufen und es dementsprechend nicht für die Verbesserung und Verschönerung des menschlichen Lebens zu nutzen wissen, sondern nur für persönliche Vorteile auf Kosten anderer, zum Beispiel durch Dominieren, ist das schon intelligent?

Sicher sind umfangreiche Bildung und Schnelligkeit in der Auffassung Leistungen. Wir können sie aber ganz unintelligent verwenden, nämlich wenn wir um unserer Ziele willen nicht bereit sind, die Erhaltungsbedingungen der verwendeten Mittel zu berücksichtigen. Wir tun dann gerne so, alles aus eigener Kraft zu können. Aber das ist dumm, denn um der vorgeblichen Förderung des Lebens willen zerstören wir wichtige Voraussetzungen von ihm.

Intelligenz müssen wir demnach eher als die menschliche Fähigkeit verstehen, Probleme zu lösen. Problemlösungen vereinbaren Handlungen, die zuvor einander ausschlossen. Sie lösen nicht durch dominieren, verdrängen oder zerstören, sondern durch verbinden des Verschiedenen unter Erhaltung des Unterschieds. So verstanden wird Intelligenz zur Fähigkeit für Integration, nicht für Zwang. Ihr Mittel ist ihr Wissen – das Wissen von der Vereinbarkeit.